International Team Madaster
Interview, Nachrichten
11 oct 2022
Stellen Sie sich vor, es gäbe irgendwo eine Aufzeichnung darüber, welche Materialien und Bauteile beim Bau von z. B. Wohnhäusern, Büros und Brücken verwendet wurden? Und dass, wenn es an der Zeit ist diese Bauwerke zu renovieren oder abzureißen, all diese Bauelemente für die Wiederverwendung zur Verfügung stehen würden – entweder vor Ort oder anderswo auf der Welt – vielleicht mit einer anderen Funktion. Die Fenster eines Krankenhauses werden zur Außenwand einer Lagerhalle oder das Holz einer Radrennbahn wird für Sitzungsräume verwendet. Durch Wiederverwendung und intelligentes Design müssten registrierte Materialien und Bauteile dann nicht mehr auf einem immer größer werdenden Abfallberg landen. Vor fünf Jahren war das alles noch eine verrückte Idee. Bis zu dem Tag, an dem der Architekt Thomas M. Rau und der Berater Pablo van den Bosch miteinander ins Gespräch kamen. Es war die Initialzündung für die Gründung von Madaster, dem digitalen Kataster für Materialien.
Inzwischen ist Madaster zu einer Online-Plattform mit über 16 Millionen Quadratmetern registrierter Bruttogeschossfläche herangewachsen. Sie ist derzeit in fünf europäischen Ländern in Betrieb und wurde kürzlich auch in Österreich eingeführt. Ziemlich spannend, denn jedes Land hat andere Regeln und Vorschriften. Und sie erfordern unterschiedliche Ansätze, um alle Beteiligten davon zu überzeugen, dass die Digitalisierung im Bau- und Immobiliensektor die einzig richtige Antwort auf die Ressourcenknappheit ist. Dieser Prozess ist nicht einfach, wie das Gespräch mit Pablo van den Bosch (Vorstandsmitglied Madaster) und allen Geschäftsführern von Madaster zeigt.
Von der Vision zur Verwirklichung
Die Idee eines Materialkatasters wurde international begrüßt. Über die Einführung von Madaster in den Niederlanden im Jahr 2017 sagt Van den Bosch: “Damals war das Konzept von Madaster wirklich anders, innovativ, weitreichend und doch auch völlig logisch und überraschend einfach. Es gab also keinen Mangel an Aufmerksamkeit.“
Die Bau- und Immobilienbranche reagierte von Anfang an begeistert auf die Idee. Marie Drange (Geschäftsführerin Madaster Norwegen) bestätigt: “Bis heute habe ich noch keinen einzigen Kunden getroffen, der der Idee eines Materialregisters negativ gegenüberstand.“ Dennoch stehen die Leute nicht sofort Schlange, um es selbst aktiv zu nutzen. Verständlich, meint Van den Bosch: “Denn mal ganz ehrlich: Würden Sie für etwas Neues komplett den Kurs wechseln, auch wenn es durchaus sinnvoll erscheint?“
„Ich habe schnell erkannt, dass die Registrierung von Materialien und Produkten absolut sinnvoll ist. Aber ich habe erst später erkannt, dass dies eine Umstellung im Bauwesen erfordert. Und diese Erkenntnis ist für mich eine Inspiration für den weiteren Ausbau von Madaster.“ Pablo van den Bosch, Vorstandsmitglied Madaster
Spitzenreiter
Um Fuß zu fassen, hat Madaster nach Vorreitern gesucht. Menschen, die sich trauen, Neues zu schaffen, ohne sich von Zeitplänen, Zeitvorgaben oder Business Cases aufhalten zu lassen. Van den Bosch: “Bevor das Madaster-Konzept in einem neuen Land eingeführt wird, suchen die Geschäftsführer:innen nach den Kennedys unserer Zeit – Menschen, die wie Kennedy in seiner berühmten Mondrede “zum Mond fliegen” wollen, obwohl er damals keine Ahnung hatte, wie oder wann und zu welchen Kosten. Aber wir alle kennen das Ergebnis.“
Ein Kennedy-Netzwerk von 33 Spitzenkandidaten bildet das Rückgrat der Online-Datenbank von Madaster und ermöglicht jeweils die Einführung in einem neuen Land. Sowohl in den Niederlanden als auch in Deutschland dauerte es weniger als ein Jahr, bis ein solch starkes Kennedy-Netzwerk aufgebaut war. Eine außergewöhnliche Leistung, wie Patrick Bergmann (Geschäftsführer Madaster Deutschland) meint: „Ich hätte nicht erwartet, dass wir nach nur elf Monaten bereits 33 Kennedys haben würden. Wir spüren die Energie innerhalb unseres Netzwerks. Das ist erstaunlich und für eine so traditionelle Branche wie die deutsche Bauwirtschaft nicht alltäglich.“
Dies ist jedoch nicht in allen Ländern der Fall. Denn während die Kreislaufwirtschaft in den Niederlanden und in Deutschland zum Zeitpunkt des Markteintritts bereits ein bekanntes Konzept war, stellte sich die Situation in der Schweiz anders dar. Marloes Fischer (Geschäftsführerin Madaster Schweiz) erinnert sich: “In der Schweiz war das Konzept der Kreislaufwirtschaft damals überhaupt nicht bekannt und wurde anfangs als eine Art Hype angesehen, der möglicherweise verpuffen könnte.“
Digitalisierung
Obwohl die Bau- und Immobilienbranche inzwischen von der entscheidenden Rolle der Digitalisierung überzeugt zu sein scheint, wird laut Johan Klaps (Geschäftsführer Madaster Belgien) in Belgien immer noch relativ viel gebaut, ohne dass BIM (Building Information Modeling) eingesetzt wird. Auch in Deutschland mangelt es mitunter an der Digitalisierung, so Bergmann: “Sowohl private Unternehmen als auch Behörden arbeiten und handeln oft in eher analogen Prozessen. Bevor große Mengen an Gebäudedaten hochgeladen werden können, müssen manuelle Prozesse durch ein intelligentes Datenmanagement ersetzt werden.“
Selbst in Norwegen, einem Land, das bei der Nutzung von BIM im Bausektor eine Vorreiterrolle spielt und in dem der Digitalisierungsgrad generell hoch ist, ist der Mangel an digital verfügbaren Daten über Immobilienobjekte ein Problem. Laut Drange bietet die Partnerschaft mit der EPEA (Environmental Protection Encouragement Agency) eine Lösung: “Die EPEA-Material- und Produktdatenbank umfasst derzeit 187 Materialien und Produkte und ist damit der umfassendste verfügbare Datensatz. Der Datensatz wächst ständig und kann auf Wunsch der Nutzer der Madaster-Plattform erweitert werden. So müssen Architekturbüros nicht mehr alle Informationen und Parameter in ihren Modellen hinterlegen, sondern können dank der intelligenten Verknüpfung mit der EPEA-Datenbank die Bewertungen ohne großen Zusatzaufwand berechnen.“
Gesetzliche Regelungen und Vorschriften
Dass Regeln und Vorschriften den Digitalisierungsprozess in der Branche beschleunigen können, hat Jeroen Broersma (Geschäftsführer Madaster Niederlande) in den letzten Jahren im niederländischen Bausektor erlebt. Broersma: “In den Niederlanden machen wir große Fortschritte im Bereich der Digitalisierung, ausgelöst durch Vorschriften, die eine digitale Berichterstattung darüber vorschreiben, ob Bauprojekte einem bestimmten Standard entsprechen werden. Darüber hinaus bieten auch Subventionen wie der niederländische Umweltinvestitionsrabatt (MIA) Anreize. Unter dem Gesichtspunkt der Innovation wird durch eine effizientere Nutzung von Materialien auch ein Mehrwert für den Sektor geschaffen. Sie führt zu weniger Abfall, gibt Einblicke in Umweltaspekte und ermöglicht den Nachweis über die Erfüllung der derBewertungskriterien im Rahmen der EU-Taxonomie, wie zum Beispiel die ESG-Kriterien (Umwelt, Soziales und Governance).“ Van den Bosch fügt hinzu, dass die internationale oder europäische Straffung von Vorschriften es für viele Parteien – und sicherlich für diejenigen, die international tätig sind – einfacher macht, Änderungen vorzunehmen und eine Kreislaufwirtschaft zu etablieren: “Wir erleben derzeit viel Rückenwind in Europa. Der Green Deal der Europäischen Kommission ist energisch, und es gibt ein großes Bewusstsein bei europäischen Unternehmen, Verbrauchern und Regierungen, dass wir die Art und Weise, wie wir mit natürlichen Ressourcen, Materialien und Produkten umgehen, ändern müssen.“
Darüber hinaus, so Fischer, sind auch Initiativen innerhalb des Sektors erforderlich, um die Registrierung von Gebäuden in Madaster zu beschleunigen: “Dies würde die Wahrnehmung der Politiker erhöhen, dass es relevant ist und dass auch sie sich dafür einsetzen sollten. Darüber hinaus sind Initiativen der Branche selbst wichtig, um eine gemeinsame Betrachtung des Problems zu ermöglichen und zusammen Lösungen zu finden.“
Madaster, der globale Standard?
Laut Van den Bosch hat Madaster einen hohen Anspruch, aber es ist nicht notwendig, dass das Unternehmenselbst einen weltweiten Standardschafft: “Wir unterstützen jedoch alle bestehenden Normen so weit wie möglich, indem wir beispielsweise genau verfolgen, woran Forscher, politische Entscheidungsträger, Zertifizierer, Normungsinstitute und -agenturen arbeiten. Und sobald ein neuer Standard oder eine neue Regelung festgelegt wurde, werden wir sie in unsere Plattform integrieren. Es gibt viele davon, oft mehrere pro Land, was bedeutet, dass wir darin ziemlich erfahren sind. Und sollte eine dieser Parteien daran interessiert sein, von unseren Erfahrungen zu profitieren, dann geben wir sie natürlich gerne weiter. Und vielleicht werden wir auf diese Weise doch noch Teil eines solchen globalen Standards sein.“